Nikola Mizerová
“Von mehreren Seiten gleichzeitig eintreten.”
Vor vier Jahren sagte Jaromír Typlt in einem Interview für den Kulturserver „A tempo revue”: „Ich fühle mich davon angezogen, wenn man eine Sache von mehreren Seiten gleichzeitig betreten kann. Wenn es nicht nur einen Eingang, eine verordnete Richtung, einen Ausgang gibt. Ich rufe mir gerne die Legende vom Grafen Cagliostro in Erinnerung, der dem Gefängnis entflohen sein soll, indem er in demselben Augenblick durch neun Tore gleichzeitig gegangen sei.” Durch eine ähnliche Offenheit – durch die Möglichkeit ein- und auszutreten – zeichnen sich wohl alle Texte Jaromír Typlts aus. Es hat sich ihnen das gedankliche Auseinanderstreben einverleibt, das die Surrealisten (die dem Typlt immer eine wesentliche Anregung waren) gefordert hatten: „(…) die Surrealisten haben neue Wege der Verknüpfung von scheinbar nicht zusammenhängenden Erscheinungen und Vorstellungen geöffnet. Ich würde auch an ihre Forderung erinnern, dass ein Gedicht ‚dem tatsächlichen Lauf des Gedankens’ folgen solle. Wenn ein Gedanke in mehrere Richtungen zugleich strebt, dann muss man ihm halt in diese mehreren Richtungen folgen.” (Nelíbí se mi slovo líbí, A tempo revue, 6.10.2008).
Offenheit und gedankliches Auseinanderstreben sind ein wesentliches Merkmal des Textes Michal über Nacht / Michal přes noc, den Typlt in der Sammlung Stisk veröffentlichte (Praha, Torst 2007). Wie der Titel der Sammlung vorwegnimmt, ist für Michal über Nacht sowie für andere Texte – in den Worten des Autors – „das Moment der Erstarrung, des Verlusts der Beweglichkeit, des Einsperrens – oder im Gegenteil des Entgleitens, der Befreiung, der Unhaltbarkeit” kennzeichnend (Jak to sykne a utne, A2, 18/2008). Der Erzähler ist in verschiedenen Räumen eingesperrt und in Gemütszuständen eingeschlossen und es bleibt ihm nichts anderes übrig als abzuwarten: „Was immer auch passiert, und sogar wenn gar nichts passiert, werde ich hier darin weiter stecken, verschlossen wie der Mohr, der nicht aus dem Schwarzen ausbrechen kann. Wie eine Aufnahme in der Dunkelkammer, die nie aufhört, entwickelt zu werden. Wie ein Homunculus in der verkorkten Flasche.” Wie bereits dieses Zitat andeutet, enthält der ganze Text viele alchimistische Motive. Das Verschlossenwerden und Warten geht dabei mit dem Symbol der Nacht einher und wird mit der anfänglichen Phase des alchimistischen Werkes gleichgesetzt, die nigredo (Schwärzung) heißt – was übrigens der Jung’schen psychologischen Deutung des alchimistischen Werkes entspricht. Die Alchimie ist also eins der „Tore”, das sich bei der Interpretation des Textes Michal über Nacht als Erstes bietet, und zwar bereits im Titel.
„Unter schwarzen Flecken,
zu weißem
Pulver gemahlen.”
Michal über Nacht. Michal ist ein junger Alchimist, eigentlich ist es nur eine Rolle, die der Ich-Erzähler in einem Film spielen soll. Der Name ist offensichtlich ein Anagramm aus dem Worte Alchimie. Der Regisseur – dem „Michal” den Spitznamen Mieszek gab, da er im Sinne der Alchimie alles vermischt – dreht eine alchimistische Geschichte, ein Märchen von der Suche nach dem Stein der Weisen. Man kann „Michal” unter anderem als einen Adepten begreifen, der warten muss, bis die Zeit reif ist und der Meister-Regisseur ihn zu sich beruft. Die Nacht im Titel des Textes ist ein typisches alchimistisches Symbol von nigredo, das auf der psychologischen Ebene der Vereinsamung und dem Warten entspricht. Michal „versauert” in verschiedenen Räumen und Gemütszuständen: „Ich hänge wieder drinnen wie der am meisten schlaff baumelnde Gehängte, für den sich nichts ändert, auch wenn er sich kopfüber hängen würde. Vielleicht reife ich, vielleicht sterbe ich ab.” (Das Motiv des Gehängten verweist auf ein Hängenbleiben in einer Situation, aus der man sich selbst nicht befreien kann und in der einem nichts anderes übrig bleibt als abzuwarten.) Michal ist ebenfalls als „König Gold” zu deuten, der nach einem alchimistischen Mythos umgebracht und begraben werden muss (im Text als Ablehnung und Warten in einem unterirdischen Raum, „vielleicht sterbe ich ab”), um wieder zu einem neuen Leben zu erwachen (als ein Schauspieler im Film) und den Ruhm zu erlangen.
Die beiden abschließenden Phasen des alchimistischen Werkes (albedo und rubedo) werden im Text nur als eine Möglichkeit angedeutet. Ob es zur Vollendung „des Werkes” oder zum „Absterben im Silber” kommt, ist nicht eindeutig. Albedo (die Weißung), die in der Alchimie durch das Licht oder die Morgendämmerung symbolisiert wird, kommt hier in der Form von Michals „Wandel ins Licht” bei der Projizierung des Films zum Ausdruck („Eines Tages wird man das alles wieder öffnen und ich werde wieder in Mieszeks Gesichtsfeld zurückkehren, um mich dort in Licht zu verwandeln.”). Die Vollendung des Werkes, rubedo (die Rötung), für die in der Alchimie der Sonnenaufgang steht, ist dann am Schluss des Textes vertreten: „Das wird nicht mal / Bis morgen früh dauern.”
Die Aufzählung von alchimistischen Motiven könnte hier beliebig fortgesetzt werden. Zusätzlich dazu gliedert Typlt dem Text noch Verse ein, die die symbolische Sprache der Alchimie nachahmen: „Mähne, die kein Obdach bietet, / Absterben des Sommers im Silber.” „Krankheit, aus der Vorzeit eingeschleppt. / Schmerz /zersetzt den Wald.” „Wenn einmal im Kreislauf, / sobald / ich mir zur Ader lasse.” Auf diese Weise entsteht hier eine fremde – besser gesagt eine verfremdete – Sprache, die die magische Funktion der Literatur wiederbelebt. Es kommt zur Abschwächung der unmittelbaren referentiellen Funktion der Worte, die nicht mehr auf die reale Welt verweisen. Wie sich Typlt im Interview für „A tempo revue” äußert: „Man muss an das Wort allmählich durchs Lauschen gelangen. Die Grenze erreichen, wo es zum Wort einer fremden Sprache wird, und es abermalig lernen. Und lauschen, wie es von der anderen Seite kommt. Für mich sind Wörter Zeichen.”
„Wer Gold sät, wird Gold ernten!”
Wie bereits aus den angeführten Verszeilen ersichtlich ist, ironisiert Typlt alles, was er aus dem Reichtum der Alchimie übernimmt: „Gib Irregeführtem zu trinken. / Faust aufs Auge / sickert durchs Auge ein”. „Das Tor fühlt / Schlottern: / Falsa rasen herbei.” Die Ironie ist hier jedoch nicht mit einer Verneinung gleichzusetzen. Eher kommt hier jenes gedankliche Auseinanderstreben zum Ausdruck, eine Logik der parallelen Existenz von Erscheinungen auf unterschiedlichen, unvereinbaren Ebenen. In diesem Sinne sagt auch Typlt über Mieszek, dass er „eher ein Hochstapler als ein echter in die Alchimie Eingeweihter, und zugleich doch auch so ein bisschen ein Eingeweihter und dabei schließlich immer nur ein Hochstapler” sei (A tempo revue). Mieszek macht ständig „geheimnisvoll blöde Sprüche”, die vielleicht Andeutungen auf eine Jahrhunderte alte hermetische Wahrheit in sich tragen, und vielleicht doch nicht: „Wer Gold sät, wird Gold ernten!” „Wer eintritt, verfault nicht.” Des Weiteren behauptet Mieszek zum Beispiel, dass „abrackern” ein geheimnisvolles Zauberwort sei, das von „Abrakadabra” abgeleitet worden sei. Ein Witz, ein Wortspiel? Michal bestätigt dies jedoch unmittelbar darauf – „Da ‚abrackern’ wirklich eine Beschwörungsformel ist”. Nach der gleichen Logik ist Michal ein Adept der echten Filmkunst und zugleich ein Schwärmer, von Sehnsucht besessen, in einem Film zu spielen. Im Grunde kann man sagen, dass sich hier die Ironie vor allem aus dem Widerspruch zwischen den parallelen Existenzformen von Erscheinungen auf mehreren unvereinbaren Ebenen konstituiert (zum Beispiel zwischen der Welt der Alchimie und in der profanen Wirklichkeit).
„Nur ich trübte das Wasser.”
Wie bereits gesagt wurde, beschwört Typlt nicht die symbolische Sprache der Alchimie, sondern er schafft deren literarische Nachahmung. Analog dazu gesteht „Michal”, dass es ihm eigentlich gar nicht um Alchimie geht, sondern dass er sich hinter den Reden von Alchimie nur versteckt: „Nur ich trübte das Wasser. Und die Trübheit, all den aufgerührten Schlamm hielt ich bereits für einen Film, der sich von selbst dreht.”
Um dies zu veranschaulichen, kann man auch Typlts Aussagen über den Komponisten Peter Kofroň einbeziehen: „Kofroň ist ein spekulativer Mensch, und darin sind wir uns ähnlich. Ich bin ihm gerade in der Zeit begegnet, als ich mich stark von Hermetismus, Astrologie und Tarot angezogen fühlte, und Kofroňs Kompositionen entsetzen beinahe den Zuhörer durch dies alles, als handelte es sich um die aus einem okkulten Kabinett heimlich ausgeschmuggelten Partituren. Jedoch darf man nicht so ohnehin darauf hereinfallen, weil zugleich eine närrische Ausgelassenheit, eine Freude an Mystifikation dies alles durchschimmert. Es erinnert mich immer wieder daran, dass die zentrale Tarotkarte der Narr ist.” (A tempo revue) Eine Freude an der Mystifikation? Ja, auch das Thema der Alchimie und die Nachahmung der symbolischen Sprache in Michal über Nacht kann als eine literarische Mystifikation verstanden werden.
„Ein Film, der die Leinwand durchreißt.”
Michal über Nacht bearbeitet nicht nur das Thema der Mystifikation durch Kunst, sondern auch der Kunst an sich. Auch die Parallele zwischen der Alchimie (die übrigens als „die Kunst” bezeichnet wird) und der Kunst (vor allem der Filmkunst) liegt hier auf der Hand. Michal kann unter anderem als eine Geschichte der künstlerischen Suche nach dem Stein der Weisen gedeutet werden, wobei der Künstler ähnlich wie ein Alchimist ans Opus Magnum gelangen möchte. In diesem Sinne spricht „Michal” von der reinen Kunst, genauer gesagt von dem reinen Film: „Ein Film, der die Leinwand durchreißt. Ein Film in sich selbst. Und ein Film aus sich selbst heraus. Ein unterschwelliger, sich im Geheimen verschärfender, vielleicht sogar völlig unsichtbarer Film. Ein Strom aus nicht wahrnehmbaren Bildern, der zwischen den einzelnen Aufnahmen huscht und sie direkt vor den Augen zerfressen und auswaschen wird, bis sich etwas offenbart, was man nicht filmen kann, und was nicht zu glauben ist.”
„Jetzt ein Gang!”
Michal spricht von einer selbsttätigen Entstehung, von einer „Offenbarung” und Materialisation des Kunstwerkes in der Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang ist der alchimistische Begriff imaginatio erwähnenswert, den zwar Typlt nicht direkt verwendet, der jedoch wieder die Analogie zwischen der Alchimie und der Kunst hervorhebt. Imaginatio steht für die Belebung des Unbewussten und dessen Einverleibung in die Materie. Ein Alchimist ist nicht nur ein Chemiker, der durch Vermischung der Zusätze an den Stein der Weisen gelangt. Der Alchimie ist ein wesentlicher psychologischer (die Vollendung der Persönlichkeit) und metaphysischer Aspekt eigen. Imaginatio ist die Verwirklichung der Inhalte des Bewusstseins, die außerhalb der empirischen Welt bestehen.
Analog kann man auch die Imagination in der Kunst auffassen. Die Einbildungskraft des Künstlers umfasst die Inhalte des Unbewussten und gestaltet sie in der „materiellen” Form des Kunstwerks um. Eine solche Kunstauffassung ist vor allem für die literarischen Strömungen typisch, die von der a-mimetischen Wirklichkeitsdarstellung ausgehen, wie zum Beispiel der Surrealismus. Alchimie und Surrealismus schöpfen jedoch aus einer anderen Art des „Unbewussten”. Die Alchimie ist noch in einer religiösen Weltanschauung fest verankert und jene unbewussten Sachverhalte, die außerhalb der empirischen Welt bestehen, sind also im religiösen Sinne zu verstehen. Der Surrealismus arbeitet dagegen mit der Einbildungskraft vor allem aus der psychologischen Sicht.
Die Traumwirklichkeit kommt auch in Michal über Nacht zum Ausdruck. Die Gesetze der Logik und Kausalität verlieren hier die allgemeine Verbindlichkeit. Die Materialisierung der Imagination, und deren Wandel zur „handfesten Wirklichkeit” werden direkt thematisiert: zum Beispiel am Anfang des Textes, als sich Mieszek alle Treppenhäuser, die er als Regisseur je gedreht hat, buchstäblich um den Finger wickelt und sie unmittelbar darauf stürzen lässt. Sie setzen sich dann zu einem neuen unterirdischen Treppenhaus zusammen: „Jetzt ein Gang!”, befiehlt Mieszek und die Treppe führt „Michal” in andere Räume, wo sich dann die Geschichte abspielt. Die Filmaufnahmen gewinnen hier also eine eigene Existenz und bestimmen den weiteren Verlauf der Geschichte.
„Da schlage ich lieber ein paar blinde Wege ein.”
Die „surrealistische”, mit traumhaften Elementen versetzte Wirklichkeitsdarstellung ist für Typlt eine der wichtigsten Anregungen, nicht jedoch etwas, was blind übernommen und nachgeahmt würde. Typlt sucht immer nach neuen Wegen. Neue Möglichkeiten für die gegenwärtige Literatur findet er vor allem in den Überlappungen mit anderen Kunstbereichen, ob mit der Musik, der bildenden Kunst oder dem Film. Er nimmt die Kunst als eine einheitliche Welt wahr, die nicht zu zerteilen ist. Typlt schafft „mutierte Lesungen” (ein von ihm geprägter Begriff) und radiophonische Kompositionen, Texte für Kunstbücher des Graphikers Jan Měřička und Kunstfilme (in denen Text, Bild und Ton zu einer Einheit verschmelzen).
In diesem Zusammenhang kann man Michal auch als eine Verschmelzung der Literatur mit dem Film betrachten. Es ist ein in das Medium der Literatur übertragener Film. Der Text ist formal in fünf Filmteile unterteilt (die Überschriften der einzelnen Teile: 1. Drehbuch / Regie, 2. Schnitt, 3. Drehbuch / Regie, 4. Schnitt, 5. Drehbuch / Regie) und beim Lesen entwickelt sich eigentlich selbsttätig ein Film, der „die Leinwand – wenn auch nicht das Papier – zerreißt”.
„Alchimie ist keine Maloche / Maloche ist kein Molchloch”
In den drei in den Text eingegliederten „Drehbüchern” spielt Typlt mit den Konsonanten des Wortes Alchimie und gruppiert sie zu neuen Wörtern um. Die Kunst erscheint dadurch als eine Kombinatorik der sprachlichen Bausteine. Dabei gilt jedoch zugleich, dass der Kunst ein gewisser, beinahe magischer Aspekt eigen ist. Auf diesem Prinzip, das auf die Herausbildung einer magischen Ursprache oder einer Musik abzielt, baut übrigens auch Kurt Schwitters Ursonate, die Jaromír Typlt gemeinsam mit Pavel Novotný vorträgt (www.typlt.cz). Auch in Michal über Nacht bleibt die Doppeldeutigkeit erhalten: die dem Text eingegliederten Verse sind eine magische Sprache und zugleich ein Spiel mit den Buchstaben, eine Kombinatorik der Laute.
„Und Einsicht reift in Unabsehbarem”
Nicht einmal jetzt, am Ende dieses Aufsatzes, vor dem letzten Tor, kann ich mich des Gefühls erwehren, dass mir Michal immer wieder entgleitet und entflieht. Einen ähnlichen Eindruck hatte ich übrigens bereits bei seiner Übersetzung ins Deutsche, mit der ich im letzten Jahr buchstäblich kämpfte. Die Texte von Jaromír Typlt, wenn sie auch beim ersten Anblick so beiläufig wirken mögen, sind bis ins kleinste Detail durchdacht und erarbeitet. Typlt bekennt dazu selber: „Mir gefällt halt eine völlig andere Vorstellung von der Freiheit: die paradoxe. Die Freiheit nicht als Ausschweifung, sondern als innerer Durchbruch, an den man durch eine ziemlich harte Aufseherarbeit gelangen muss – durchs Streichen gelangen muss, wenn von Texten die Rede ist.” (A nadhled zraje v nedohlednu, Tvar 04/2009).
Die strikte Rationalität wird bei Typlt auf der inhaltlichen Seite ausgeglichen. So entsteht ein Widerspruch zwischen der surrealistischen Traumhaftigkeit, der Irrationalität und Invention auf der einen Seite und dem streng rationellen Aufbau, der detaillierten Erarbeitung, der Intervention auf der anderen Seite: „Ich habe seit langem daran gezweifelt, warum ich eigentlich so viel vom Visionärtum, von der Irrationalität und Intuition angezogen werde, wenn ich persönlich eher auf der Erde bleibe und alles der Vernunft überlasse (…) Es ist eigentlich absurd, dass ich mich einst eben in dem von Phantasmagorien und Wahnbildern vollen Dali’schen Surrealismus gefunden habe.” (Tvar) Für den Übersetzer ist ein Text, in dem ein jedes Wort genau passt – also dem die „durch die Aufseherarbeit gewonnene Freiheit” eigen ist, und dessen Boden jedoch unabsehbar ist – eine fatale Angelegenheit und ein beinahe unendlicher Prozess.
2012
(auf tschechisch: Vstupuj devíti branami, Souvislosti 2/2012)